In den steilen Straßen von Girokaster

Trotz der mehr oder weniger durchwachten Nacht bin ich um viertel vor sieben, noch vor dem Wecker, wach. Auch Jutta hält es nicht mehr im Bett. Unten im Speisesaal trifft sich eine mehr oder weniger übermüdete Reisegesellschaft. Nur Gerhard – er hört auf einem Ohr nicht mehr so gut – hat problemlos durchgeschlafen.
Jutta, Denise und ich ziehen los, hinauf in die steilen Altstadtstraßen von Girokaster, verlieren uns aber schon quasi auf den ersten Metern, weil ich den Markt ansteuere, während die beiden direkt hinauflaufen in die Altstadt. Der Markt – so etwas Leeres habe ich schon lange nicht mehr gesehen, Die Händler schauen mich sehnsüchtig an, aber Second-Hand-Klamotten brauche ich nun wirklich nicht, so muss ich sie leider mit sich selber alleine lassen.
Ich biege ab in ein Wohnviertel und erreiche kurz darauf die Kopfsteinpflasterstrasse, die hinauf in die Altstadt führt. An der Ecke stehen gerade Gerhard und Gisela, die die Karte studierten und sie laden mich ein, mit zu laufen. Gisela fotografiert fast so gerne wie ich, hat aber eine kleine Lumix, keine SLR.
Gemeinsam laufen wir langsam den Burgberg hinauf durch die Altstadt, immer mal wieder auf Seitenwegen, teils auch leicht vermüllt oder überwachsen (immerhin kein stinkender Müll, bloß viel Plastik). Wir werfen Blicke in die Gässchen und die Gärten der Burghäuser, die so typisch sind für die Altstadt von Girokaster. In ein Haus wären wir bald zum Kaffee eingeladen wollen, aber Gerhard sträubt sich leider.

Die Serpentinen abkürzend, die die Taxis fahren, erreichen wir nach steilem Aufstieg die Burg selber. Der Eingang führt durch ein mit Kanonen gefülltes dunkles Gewölbe (das im Reiseführer zumindest nicht ganz zu unrecht als Mutprobe bezeichnet wird).

Der Kassierer fragt, ob ich deutsch sei, es wären heute schon so viele Deutsche da und ich berichte über unsere Gruppe von fünfzehn Leuten. Hier fällt man als Tourist noch so richtig auf.
Der Burghof selber ist eher interessant durch den weiten Ausblick, den man über die Stadt hat. Das Waffenmuseum habe ich mir gespart.

Ich alleine wäre wahrscheinlich nicht weiter nach oben gestiegen, aber Gisela will die Burg von oben überblicken, und so klettern wir weiter hinauf, vorbei an Maultieren, galoppierenden Pferden und kleinen Mädchen, die „What’s your name?“ rufen und dann schüchtern hinter der Tür verschwinden, ehe man antworten kann. Dann die älteren Leute, die auf ein Hallo und ein Lächeln mit einem festen freundlichen Handschlag antworten und auf albanisch auf mich einreden. Ich rede dann freundlich auf deutsch zurück und wir verstehen uns perfekt.
Wie steil der Aufstieg wirklich war, nehmen wir erst beim hinabgehen wahr, zum geradeaus laufen geht es viel zu sehr hinab, wir denken uns Serpentinen auf der Straße, die wir dann verfolgen.

Zu Mittag trennen wir uns, ich setze mich an den zentralen Platz etwas unterhalb der Touristeninformation in eines der beiden von Platanen überschatteten Cafés, esse vegetarisches Köfte (sprich gewürzte Reisbällchen) und Tomatensalat und schreibe endlich mal Postkarten. Endlich mal ein Kellner, der englisch spricht. Anschließend bekomme ich einen Teller Melonen als Zugabe und unterhalte mich kurz über Hotel und Stadt.

Gegen drei bin ich wieder unten am Hotel. Auf der Treppe sitzt Hans und fragt, ob ich mit will zur ältesten Kirche der Gegend. Klar, solange ich nicht noch viel laufen muss. Also mieten wir für je 20 EUR zwei Taxis und fahren zu sechst mit einem deutschsprachigen Guide hinauf in die Berge. Die sind hier wesentlich karger als am Vortag.

Das Dorf mit der Kirche – Labova e Kryqit (Labova vom Kreuz) – ist eine gute halbe Stunde von Girokaster entfernt hoch und abgelegen am Berg und unser Guide erzählt die Geschichte der Kirche in gebrochenem, aber verständlichem Deutsch. Die Sage erzählt, das dies der Ort der ältesten Kirche der Welt sei, gegründet nach einem Besuch von Paulus höchstselbst in der Gegend. Ein Stück des Kreuzes, gestiftet von Kaiser Justinian, soll bis 1990 in der Kirche gewesen sein – trotzdem sie während der kommunistischen Diktatur nur Waffenlager war. 1990 mit der Öffnung Albaniens wurde das Kreuz von zwei jungen Männern gestohlen, sie nahmen das Gold und das Silber, in das es gehüllt war und warfen das Holz in den Fluss. Seitdem wurde es nicht mehr gesehen. Die Männer wurden erwischt und sassen lange Jahre im Gefängnis.

In der Zeit, in der uns unser Guide diesen Geschichten erzählte, fuhr die  Schlüsselwächterin her. Mit einem Schlüssel beeindruckender Größe öffnet sie dann den Kirchhof und die Kirche selber.
Das eigentlich beeindruckende an dieser Kirche ist die vergoldete Ikonostase, fein geschnitzt und augenscheinlich recht alt. Auch ein Teil er Ikonen sieht für mich alt aus. Wie unser Guide erzählt, soll die Kirche in Kürze von Großbritannien saniert werden, der Botschafter wäre so begeistert gewesen, er hätte gleich an Ort und Stelle nach England angerufen, und die Sanierung in Auftrag gegeben.

Wir dürfen nach Herzenslust fotografieren. Über die Anderen habe ich mich aber ein bisschen geärgert, weil sie einen Blitz benutzten, es gab genug Ablageflächen, um eine Kamera stabil hinstellen zu können.

Wir legen fünf Euro drauf und fahren weiter nach Libohova zum Kaffee trinken. Unter einer wahrhaft monumentalen Platane sitzen wir zusammen mit unserem Guide und den beiden Fahrern und einem weiteren Gast zusammen.

Unser Guide heißt Ermir und ist im normalen Leben Physiklehrer, verdient um die 300 EUR im Monat und sorgt mit seinen Führungen für ein kleines Zubrot. Morgen sind übrigens in Albanien die staatlichen Abiturprüfungen in Mathematik. Einer der Fahrer hat Ingenieurwissenschaften studiert, findet aber keine Arbeit und fährt daher Taxi.
Der andere Fahrer – von Kathrin als „Schuhmacher“ tituliert – nimmt die Herausforderung an und lässt sie auf dem Rückweg für ein paar Kilometer ans Steuer. Auch ein kleines Abenteuer so ohne Führerschein in der Tasche und erst recht ohne Taxischein.
Im Taxi bekommen wir auch hautnah mit, wie sehr hier per Augenkontakt gefahren wird, wie wenig Schilder und Ampeln gelten, sofern es sie gibt. Einen Unfall habe ich aber bisher noch nicht gesehen.

Richtung Girokaster

Heute ist unser Ziel Girokaster, Geburtsstadt von Enver Hoxha, dem Diktator und Ismael Kadare, dem preisgekrönten Dichter Albaniens. Eine lange Fahrt ist angekündigt. Ich bin recht müde und nicke zwischendurch immer wieder ein.

Einmal öffne ich die Augen und zucke doch kurz zusammen – weil ich einem Mann mit Gewehr ins Auge blicke. OK, er war 200 m den Hang rauf und hatte das Jagdgewehr zwischen beide Ellenbogen auf den Rücken geklemmt, aber trotzdem. Wir sind schließlich in den Schluchten des Balkan.

Gegen viertel vor Zehn starte Gernod wieder eines seiner Experimente (wir sind schließlich auf Pioniertour, die erste Reise, die Djoser hier macht). Der halbe Bus (die mutige Hälfte), steigt in einer der Serpentinen aus. Dort geht ein Weg ab, der bis zum nächsten Dorf zu führen scheint. Am übernächsten Dorf wollen wir dann die Übrigen wieder treffen.
Der Weg bleibt zwar nicht so schön breit und ausgebaut, wie er zu Anfang schien, ist auch teils leicht morastig, steinig und recht schmal, aber ansonsten gut gangbar. Ich bin trotzdem froh über meine Wanderstiefel, die anderen haben anschließend mit ihren Treckingsandalen leicht schlammige Füße.
Gelegentlich schaut jemand durch eine Hoftür und wir grüßen mit Hallo oder Mire Dita („Guten Tag“ auf albanisch).

Auf einer Wiese sehen wir von weitem schon ein Mädchen im Wipfel eines Baumes Kirschen pflücken. Ihre Mutter steht unter dem Baum und ihre Oma kommt kurz darauf mit einer Schürze voller Kirschen, die sie uns in die Hände schüttet und spitzbübisch grinst, als die Kirschen gar nicht in die Hände passen (zum Glück hat Denise einen Plastikbeutel dabei, lecker Kirschen!). Ich frage die Frau, ob ich ein Foto machen dürfe. Da muss sie erst mal ihr schwarzes Kopftuch neu falten, ihren Pony arrangieren und dann stellt sie sich in Positur. Ich zeige ihr das Foto auf dem Bildschirm und sie streicht mir dankbar übers Haar, so dass ich mich bald wieder wie ein kleines Mädchen fühle.

Tatsächlich haben wir den richtigen Weg gefunden. Vorbei an Hühnern, riesigen Malven und Weinstöcken erreichten wir wieder die Straße und sehen oberhalb am Dorfplatz auch schon den Bus stehen, der uns dann durch die Serpentinen entgegen kommt, drei albanischen Motorradfahrern folgend.

Weiter geht es durch die grandiose Bergwelt der albanischen Alpen mit vielfältigen Gesteinsarten, weiten Blicken, steilen Abhängen, teils bewaldet, teils felsig, teils mit Gras bewachsen.  Vereinzelt Ziegen, Schafe und Kühe, aber großenteils menschenleer.
Einsame Weite mit vielen lohnenden Fotostopps.

Das Essen ist heute ein ziemlicher Reinfall. Mittags gibt es einen Teller Pommes, den wir
uns teilen, sie sind total fettig, noch fettiger und zudem kalt ist das Lammfleisch, das es bei der eigentlichen Mittagspause gegen drei gibt. Überhaupt: wenn man hier in Albanien Fleisch bestellt, gibt es immer gleich wahre Berge davon, ohne Beilagen und Gemüse, die man extra bestellen muss.

Die Gruppe ist diesmal im „First Hotel“ in Girokaster untergebracht. Jutta und ich haben mit Zimmer 303 ein Eckzimmer mit Panoramablick durch zwei aneinandergrenzende Fenster. Dafür allerdings eine Dusch-Klo-Kombination. Man kann halt nicht alles haben.
Gegen sechs Abends fängt die Straße unter uns an aufzuleben. Die Leute flanieren auf der gegenüberliegenden Seite (auf der Straßenseite des Hotels wäre das auch kein leichtes Spiel gewesen, bei den riesigen Löchern (man sollte eigentlich sagen Abgründen) im Bürgersteig). Einige Flaneure sind richtig fein gekleidet, in Anzug und Abendkleid, ein kleines Mädchen im weißen Kleid mit Blumenverzierungen. Oben auf den Balkonen sitzen die Leute, trinken Kaffee und schauten zu.

Gegen Neun leeren sich die Straßen dann wieder. Die Musik hört aber keineswegs auf. Laut klingt sie über die Stadt. Es wird Mitternacht, es wird zwei Uhr, …, gegen halb vier muss ich übermüdet eingeschlafen sein, oder die Musik wurde dann doch abgestellt.

Wie wir am nächsten Morgen erfahren, war ein paar Häuser weiter eine Hochzeit mit albanischer Livemusik (die Musik war ja auch nicht schlecht, aber …). Dieter, auf der Suche nach der Lärmquelle, war eingeladen worden und hatte die Braut geküsst und bis um vier mitgefeiert.