Welcome to India – Level 2

Eigentlich hatte ich ja gedacht, ich wäre schon zweieinhalb Wochen in Indien gewesen. Dieser Tag hat mich vom Gegenteil überzeugt. Sämtliche Bilder, die ich vor meiner Reise im Kopf hatte, spielten sich nun vor meinen Augen ab. Indien, das ist Menschheit pur.

Kann es sein, dass das Gujarati-Wort für “Stau” Una ist. Wenn nicht, dann sollte es dies werden. Wir näherten uns diesem kleinen Ort namens Una und kaum sind wir am Ortseingangsschild vorbei, geht gar nichts mehr. Nicht vorwärts. Nicht rückwärts. Und seitwärts an uns vorbei nur scheinbar. Auf einmal stehen die Autos in mehreren Reihen neben uns in unsere Richtung. Eine Viertelstunde können wir in aller Gemütsruhe das Dorfleben beobachten. Ein junger Mann, der sein Motorrad abspritz, Leute in ihren Ladeneingängen, Verhandlungen vor dem Gemüsestand, junge Frauen die sich auf einem stehenden TucTuc festklammern, während die TucTuc-Fahrer ein Schwätzchen halten. Bis schließlich unser aller Freund und Helfer sich einen Weg bahnt. Und tatsächlich, nur knappe 10 Minuten später müssen unsere rechten Nachbarn das Feld räumen, abbiegen, oder sich irgendwie links einreihen. Und dann gib es tatsächlich doch wieder – sich bewegenden Gegenverkehr.

Des Rätsels Lösung ist eine Brücke, auf die eigentlich zwei Wagen nebeneinander passen, die aber durch die von beiden Seiten drängelnden Autos sowie einen Lastwagen mit einer Panne total blockiert gewesen war. An beiden Seiten strömen nun Fußgänger um uns herum und die ersten Motorräder wagen sich schon wieder auf der falschen Seite in die Gegenrichtung.

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Von der Brücke aus sehen wir Leute und Hunde den Fluss queren, Frauen ihre Wäsche waschen und Vögel im Gras. Fast bedauere ich, schon wieder weiterfahren zu müssen. Insbesondere, weil die nun folgende Strecke die schlechteste der ganzen Reise ist, Schlagloch an Schlagloch. Mit Betonung auf Schlag und auf Loch. Aber irgendwann geht auch das vorbei.

Una, das war Leben hinter der Autoscheibe. Bhavnaghar, das ist Leben hautnah. Unser TucTuc drängelt sich durch die Basarstraßen und kommt kaum durch. Der Basar in Bhuj war nichts dagegen. Was sich hier alles auf der Straße drängelt zur Hauptverkehrszeit! Und Bhavnagar hat einen Basar, so orientalisch wie er nur sein kann. Goldbestickte Saris wetteifern mit den Farbschalen für Diwali. Aus den Ecken duftet es nach Backwaren. An den Marktständen gibt es dutzende Sorten Bohnen, Auberginen in jeder Größe und halbreife Guaven zum kosten. Der Zwiebackbäcker will kein Foto von sich, er ist Muslim. Aber er zeigt auf den Mann vor dem Ofen. Ob der Mann vor dem Ofen wohl Hindu ist, oder Christ?
Ein junger Mann im Sariladen sagt, er würde uns gerne mit allem helfen und wir sagen, wir werden uns gerne darauf beziehen, wenn wir in die Verlegenheit kommen.
Am Ende einer Marktstraße biegen wir in ein Wohnviertel ab und haben nun alle Aufmerksamkeit – wenn wir die nicht vorher schon hatten – bei uns. Kleine Jungs lassen Drachen steigen. Ich sehe meine erste Riesenkakerlake, sage es aber nicht weiter. Ein Mann winkt, wir sollen nach oben kommen, sie würden für uns kochen. Aber wir winken dankend ab, da darunter die Abwassergrube gesäubert wird. Nur am Rande streifen wir so das Leben der Menschen jenseits der Märkte.

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Stattdessen Essen wir ganz vornehm m Gartenrestaurant des Nilambagh Palace zu Abend. Nach drei Wochen ungewohnt ruhig, lauschig und fast wie ein europäischer Sommerabend. Ein bisschen Abstand zum übrigen Indien rund um den Palastgarten.

Abendessen vorm Palast

Handwerkskunst

Fast kühl ist im Gegensatz zum Rani Ki Vav – den wir kurz zuvor besucht hatten – in einer Weberei in Patola Patan. Die Fäden sind vorgefärbt und werden so miteinander verwebt, dass sie dann die Muster ergeben. Beidseitig ergeben sich dieselben Muster. Beeindruckend was dies für eine geplante Arbeit ist. Der mitgenommene Prospekt betont immer wieder, das bisher noch keine Maschine und kein Computer diesen Effekt hinbekommen hat.

Webstuhl in Patola Patan

Um die Mittagszeit eines langen Fahrtages lernen wir eine der vielen Arten kennen, wie man Saristoffe verschönern kann. Ein junger Mann mit islamisch afghanischem Bart empfängt uns und erklärt in aller Ruhe und mit viel Geduld, welche Farben für den Blockdruck benutzt werden, welche Stoffe bedruckt werden und wie beim Blockdruck vorgegangen wird, insbesondere auch, wenn der Druck beidseitig erfolgen soll. Fixiert wird mit Alum (Alaun). Mit welcher Genauigkeit diese Männer ihre Arbeit machen, trotz einfachem Handwerkzeug!
Natürlich geht es auch in den Verkaufsladen, aber das gehört dazu. Es gibt Tee, Masala Chai und dann können wir in den Tüchern in den Regalen kramen.

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In der Weberei ein paar Kilometer weiter zeigt man uns Stoffe verschiedener Qualität und ihre Herstellung in großen Handwebstühlen. Diesmal kaufen wir nichts, trotz genauer und engagierter Erklärung. Das tut einem ein bisschen leid – nach der Mühe, die sich die Leute machen. Aber Mitleid haben diese Leute ob ihres Könnens auch gar nicht nötig. Faden um Faden in komplexen Mustern, die die Kunden gezielt in Auftrag geben entstehen Wunderwerke.

Webstuhl

Es gibt nur noch eine einzige Familie in Gujarat – wer weiß, vielleicht weltweit – , die noch Stoffe nach Rogan-Art bemalt. Ein dicker Farbklecks wird auf die eine Hand gegeben, dann holt die andere Hand mit einem kleinen Stock immer wieder Farbfäden heraus und tupft oder zieht Farbe über den Stoff. Die Farbe wird aus Castoröl hergestellt. Der bemalte Stoff wirkt fast wie Stickerei. Eine unglaublich präzise Arbeit.

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Auch interessant, wie man Kochlöffelstiele wasserdicht bemalen kann. Der Handwerker nutzt eine Art Kautschukmasse, die sich durch das drehen des Stils erhitzt, am Stil kleben bleibt und leicht verflüssigt. Das gibt entweder Ringe am Stil oder aber bei passender Haltung leichte Wellenmuster.

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Nur die Töpferarbeiten sind so, wie ich sie auch kenne, vor der Töpferscheibe sitzt eine ältere Frau mit hennagefärbten grauen Haaren und versetzt die Scheibe mit einem Stab in schnelle Drehung und hat im Nu ein ganzes Teegeschirr produziert, dass eine ihrer Mitarbeiterinnen wiederum mit feinen Mustern verziert.

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Und dann erwischt es mich richtig, ich die ich die letzten Reisen ernste Probleme hatte, überhaupt Souvenirs zu finden. Eine große Decke mit Spiegelstickerei in einer Rundhütte mit gefegtem Boden :-)

Spiegelstickerin

„Normale“ Sticker sahen wir in Mandvi. Wobei vielleicht nicht die Technik das besondere ist, aber die Muster.

Sticker

Das so viele Handarbeiten auf dem Boden stattfinden ist mir im Nachhinein aufgefallen. Teilweise in Körperhaltungen, die wir – vielleicht auch aufgrund der Schreibtischarbeit – gar nicht mehr hinbekommen.

Keine Flamingos

Ein Fahrtag, und zwar ein langer, zwischen Dasada und Bhuj. Der Weg führt wieder durch den großen Rann of Kutch und fast glauben wir, Flamingos zu sehen. Aber es gibt hier eine Storchenart, die auch rosa Rückenfedern hat. Ganze Schwärme dieser Vögel finden wir in den Salzpfannen links der Straße, unter riesigen Strommasten.

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Zum ersten Mal stehen wir in einem Stau – vor einem Bahnübergang. Ich glaube, Gujarat ist wirklich untypisch für Indien, so wenig Leute wie an manchen Stellen auf der Straße sind. Aber die Leute sind auch findig. Im Stau läuft der Junge durch die Automenge mit seinen Bananen. Sein Stand steht verlassen am Straßenrand.

Pausen machen wir bei verschiedenen Handwerkern. Aber weil das so schön zusammenpasst, habe ich die Handwerker von heute und der nächsten Tage in einem eigenen Artikel zusammengefasst.