Hinlopenstraße

Kurz vor drei stehe ich mit Johannes draußen unterm Dach und wir reden über Wale. Er hat selbst noch nie welche gesehen. Ich erzähle von meinem Traum, dass Aquarium in Okinawa zu besuchen – mein einziger Grund, nach Japan zu fahren (ich weiß, ich sollte gegen meine Vorurteile ‚mal etwas tun. Tipps dazu gerne im Kommentar). Im Aquarium haben sie Walhaie. Das muss man sich mal vorstellen!
In genau diesem Moment sehe ich einen runden Rücken und eine Finne, vielleicht dreihundert Meter entfernt. Der erste Wal der Reise. Ein Zwergwal (meint Jan später). Karin und Stefan erzählen, sie haben den Wal auch gesehen. 
Im Laufe der nächsten halben Stunde sehe ich noch drei mal Walrücken in der Ferne. Jelle auch. Die meisten Anderen gehen schnell wieder hinein. Ich brauche diesmal ein bisschen länger, bis es mich wieder in die Wärme des Salons zieht.

Gegen halb Vier hört man es draußen knirschen. Das Schiff durchfährt mit halber Kraft ein Treibeisfeld. Zeit sich warm anzuziehen, die Mütze aufzusetzen und aufs Eis zu freuen.

Mir wird in diesen Stunden klar: dass ist der Grund warum ich in diese kalten Gegenden fahre – das Eis. Auch wenn – nicht wie in der Antarktis – die Sonne scheint. Es ist neblig. Das Packeis häuft sich auf. Das Wasser ist spiegelglatt. Wären wir nicht alle so aufgeregt, man könnte die Stille mit Händen greifen – wenn das Eis nicht gerade kracht. Rundherum, links bis zum Gletscher, rechts bis zum Horizont Eis, nur durchbrochen von schmalen Kanälen. Darüber ziehen Vögel: Dickschnabellummen, um diesen langen Namen müssen wir irgendwie unsere Zungen herum bekommen (der englische Begriff Alk ist so viel kürzer). Irgendwo hinter dem Nebel gibt es hier einen Vogelfelsen, den sie anfliegen, mit kleinen Fischen im Schnabel.

Jan und Jelle pressen die Ferngläser vor die Augen auf der Suche nach dem worauf wir alle warten – den König der Arktis, nach Eisbären. Und wir haben Glück. Schon nach zehn Minuten kommt Jan vom Vorderdeck und ruft "Bären".
Bis ich den kleinen Fleck in den Eismassen finde, vergehen bestimmt weitere zehn Minuten. Svenja manövriert hin und her. Kaum Zeit ein Stück Apfelkuchen mit Sahne zu verdrücken.
Der Bär ist immer noch weit weg, aber jetzt mit bloßem Auge zu erkennen. Er liegt auf dem Eis. Dann steht er auf und fängt an zu wandern.

Die Robbe, die alleine an einem Eisloch sitzt, sieht ihn schon von weitem und verschwindet. So richtig Hunger scheint er nicht zu haben. Und meine blutrünstigen Mitfahrer ;-) müssen auf ein abgezogenes Robbenfell oder den Blutfleck auf der Scholle verzichten.

Kurz darauf ist die Scholle vor uns dafür rostig rot. Uns war schon länger klar, dass wir die Hinlopenstraße nicht schaffen würden: zuviel Eis vor uns. Aber während wir dem Bären zuschauten, hat sich auch von hinten dichteres Eis an geschlichen, breit und zu dicht für unser nicht eisfestes Schiff. Die Antigua stößt und versucht ihr Bestes, aber sie schafft es nicht.

Smeerenburg

Gegen halb Sechs erreichen wir Amsterdamoya und der nächste Landgang steht an. Jan klassifiziert die Tour als schwer – was immer das heißt. Es geht fünf Meter über rund geschliffene Kiesel bis ans obere Ufer. Der Grund ist dort oben gemischt felsig, Steinplatten und Stein, dazwischen immer wieder Moos und feuchter Boden. Ich muss auf meine Füße schauen, aber eigentlich komme ich ganz gut vorwärts.

Nach zehn Minuten sind wir an unserem ersten Halt angekommen: Smeerenburg war eine holländische Walfangstation. Hier wurden die Wale – wohl Grönlandwale – an Land gezogen, zerkleinert und zu Lampenfett verarbeitet. Die Geschichte die von tausenden Bewohnern erzählen mag ich nicht glauben. Alles was man noch sieht sind die Ringe von drei Tranöfen und an einer Stelle Backsteine, die aus dem Boden ragen.  Auf jeden Fall war der Boom schnell vorbei. Das Meer, dass von Walen nur so gewimmelt haben muss, war leer und die Walfänger mußten wieder abziehen. Basken, Holländer, Deutsche, ganz Europa hatte gemeinschaftlich für die Ausrottung gesorgt. Grönlandwale gelten heute um Spitzbergen als ausgestorben – auch wenn Rolf auf seiner Tour dieses Jahr einen gesehen hat.

Reste eines Tranofens in Smeerenburg
Reste eines Tranofens in Smeerenburg

Der weitere Weg soll anstrengender werden. Jan fragt, wer abgeholt werden möchte und Kathrin nimmt das Angebot an. Sie wird von Jan am Arm über die Kiesel geführt und ins Boot bugsiert. Manchmal ist er ein bisschen zu zuvorkommend.  Ich selbst beschließe, es zu probieren und bereue es nicht. Die Strecke ist bis auf wenige Meter einfacher als der Anfang bis Smeerenburg, großenteils mehr Moos als Steine. Einmal müssen wir einen kleinen Bach queren.

Unser nächstes Ziel ist das Grab der sieben Holländer, die vor vielen Jahren aufgrund zu wenig Proviant bei ihrer zweiten Überwinterung hier verhungert sind. 1979 – so Kathrins Buch – lagen hier noch die Knochen offen. Jetzt ist dort ein hoher Steinhügel inmitten der Einsamkeit der Tundra, mit Blick aufs Meer. Steintafeln erzählen vom Respekt, den die holländische Königin dem Männern erwiesen hat.

Die zweite Überwinterung überlebten sie nicht mehr
Die zweite Überwinterung überlebten sie nicht mehr

Der weitere Weg führt uns quer über die Landzunge zurück zum Ausgangspunkt. Die Stiefel versinken bis über die Füße im Moos und Schlamm, wenn man an die falsche Stelle tritt. Eisbärentatzenspuren sind noch ein Jahr später gut zu erkennen.
Die Farben von Svalbard erschließen sich erst, wenn man an Land unterwegs ist. Rote Erde, gelbe winzige Blüten. Ganze Felder in gelb und hellem Grün Und das Grau der Steine. Am Strand das Treibholz, blank geschrubbt vom Meerwasser und hellbeige zwischen roten Steinen und weißen Kieseln. Dahinter das Meer, schwer und grau an diesem bedeckten Tag, in schönstem Himmelhellblau wenn die Sonne scheint.
Ich versuche mich in der Landschaftsfotografie – Vordergrund, Schärfe,  Führungslinien, Farbe. Insbesondere das Thema Schärfe ist nicht einfach, aber die Kameraautomatik hilft und ich nähere mich an. Das Licht ist heller als man meint, obwohl es bedeckt ist habe ich bei kleinster Blende und 200 ISO 1/250s Belichtungszeit.

Zurück an Bord haben alle Hunger und stellen sich gleich an. Lars kommt in den Salon und spricht aus, was ich denke: "Diese Schlange" (vor dem Buffet) "wird auch immer länger." Es gibt Pute mit Champignons zu Wildreis und danach rote Grütze mit Vanillesauce. Wenn das so weitergeht, werden sie uns von Bord rollen müssen.

An diesem Abend bringe ich Maren, Kathrin und Waltraud "6 nimmt" bei und wir spielen bis Mitternacht. Als ich mich umdrehe und nach Elfi schaue ist sie lange im Bett verschwunden. An ihrem Tisch wird weiter gepokert bis mindestens halb zwei.